Alma

Die Fische, die Oberstudienrat Heinrich Hummler in seinem Aquarium hielt, hießen alle Alma, wie seine Mutter. Er unterließ es, sie zu füttern. Säuberlich schrieb er das jeweilige Datum ihres Ablebens in ein Buch, in dem er sich auch über die Regelmäßigkeit seines Stuhlgangs und die Zeiten der Sonnenauf- und untergänge auf dem Laufenden hielt. Immer wieder sorgte er für Fischnachschub. Gemeinsames Schicksal aller Almas war es, wie Pflanzen im Herbarium zwischen den Seiten der zahllosen seltenen Werke der Naturwissenschaft zu landen, die Hummler in den vergangenen dreißig Jahren in Berlins Antiquariaten aufgestöbert und in seiner kleinen Zweizimmerwohnung gestapelt hatte.

Hummler lehnte es ab, sich die Namen seiner Schüler zu merken und nummerierte sie einfach von Tisch zu Tisch durch. Schlechte Schüler tauschten bei Prüfungen häufig die Plätze mit leistungsstarken Kameraden, ohne dass er es je bemerkte. Seinen Kollegen erschien er als ein korrekt den Lehrplan einhaltender Mensch, den man jedoch am besten in Ruhe ließ. Nach einigen sonntäglichen Essenseinladungen, die er zu überhören schien, unterließ schließlich auch Fräulein Rotkamm, eine Englischlehrerin, wie er in den Fünfzigern und allein lebend, weitere Annäherungsversuche.

Nach dem Unterricht hielt Hummler sich mit Vorliebe in Antiquariaten und Fischgeschäften auf, um gegen Abend mit seiner Beute heimwärts zu streben. Er war die perfekte Summe der Anteile seiner längst verstorbenen Eltern, die er nie gemocht hatte. Die Aktenberge, die sein Vater regelmäßig aus dem Büro mit nach Hause gebracht hatte, um Zahlen vor sich hinmurmelnd in ihnen zu versinken, hatte Hummler durch teure, alte Bücher ersetzt. Mit stets leicht geöffneten, feuchten Lippen, die ihn bei seiner Mutter angewidert hatten, memorierte er flüsternd die Entdeckungen verblichener Naturwissenschaftler und spickte seine dicken Bücher mit den einzigen Wesen, die er kurzzeitig bei sich duldete, den Fischen.

Den Wunsch nach Kommunikation hatte er gemeinsam mit dem grau-trüben  Kindheitserinnerungskloß in sich erstickt. Er mochte nicht über sein Leben nachdenken oder es gar verändern, der unauffällige Oberstudienrat Hummler. Es drang wenig von ihm nach außen, und das schützte ihn. Behutsam fischte er die abertausendste Alma aus dem Aquarium, notierte ihre Sterbeminute und danach die des Sonnenuntergangs.



August 1988