Loslassen

Er hatte sich ins Wohnzimmer gelegt und wollte sterben. Seine Frau hatte er gebeten, ihn auf keinen Fall in ein Krankenhaus einzuliefern. Er aß und trank immer weniger und verschlief die Tage. Auf einmal träumte er wieder sehr viel und kommentierte mit aufgeregter Stimme das Geschehen. Nur nachts hielt er das Schlafen nicht aus. Da stand er mehrmals mühevoll auf und lief zwischen Toilette und Wohnzimmer hin und her, wesentlich öfter, als es notwendig gewesen wäre. Wohl oder übel ließ er einige Arztbesuche über sich ergehen. Kein Befund beim Neurologen, keiner beim Röntgen des Darms. Seine Frau war erleichtert. Vielleicht handelte es sich doch nur um eine vorübergehende Schwäche aus Altersgründen.

  "Sie haben nichts gefunden", teilte sie ihm mit. Ein anderes Ergebnis hätte sie ihm verschwiegen. "Also bin ich völlig gesund!" Die alte Ironie in seiner Stimme ließ sie frohlocken. So spricht man nicht kurz vor seinem Ende. Sie versuchte ihn zum Aufstehen zu bewegen. Er quälte sich an den Tisch und mäkelte über das salzarme Essen. "Ich freue mich so auf mein Bett." Sie kaufte ihm einen neuen Schlafanzug. Er wollte sich nicht mehr waschen. Sie wartete zwei Tage, dann wusch sie ihn. "Ich habe doch nicht in einer Kohlenkiste geschlafen", protestierte er gegen ihr Reinlichkeitsansinnen. Seine Mundhöhle war wund. Er nahm sein Gebiß heraus und sah um Jahre älter aus.

  Wenn sein Sohn und seine Tochter ihn besuchten, setzte er sich für eine Weile aufrecht hin. Er rauchte eine Zigarette und trank eine Flasche Bier. Beides schmeckte ihm nicht. Früher hätte seine Familie sich darüber gefreut. "Was gibt es sonst Neues?" fragte er und hörte bei der Antwort nicht zu. Über seinen Zustand wollte er nicht sprechen. Vor allem nicht über weitere Arztbesuche, gründlichere Untersuchungen. "Nicht ins Krankenhaus!" war sein Kommentar zu allen Überredungsversuchen. Er schloß die Augen und war unerreichbar.

  Seine Frau deckte ihn zu und er lächelte. "Du bist so fürsorglich zu mir. Wie eine Mutter." Er wurde zum achtzigjährigen Kind im Laufe weniger Wochen. "Warum hast du alle Möbel aus meinem Zimmer geräumt?" fragte er zwischen zwei Schlafphasen. "Ich habe mir die Lampe aus dem Wohnzimmer geholt und sie in meinem Zimmer aufgehängt, damit ich wenigstens Licht habe. Das war sehr anstrengend." Seine Stimme klang vorwurfsvoll. "Du hast nur geträumt." "Meinst du? Es war aber so deutlich." Etwas später sah er nicht vorhandene Besucher im Wohnzimmer: den Bruder, den Neffen, die Enkelkinder. Seine Frau widersprach ihm nicht.

  "Wir hatten ein herrliches Grundstück am See. Wieso sind wir da weggezogen?" wollte er enttäuscht wissen. "War das auch wieder ein Traum?" Er begriff die Welt nicht mehr und wollte niemanden mehr sehen außer seiner Frau. "Ich liege ja doch nur wie ein Idiot hier rum." Die Kinder kamen trotzdem. Er nahm sie kaum wahr. Auf dem Kopf trug er nun eine Wollmütze. Er fror. Er trank gar nichts mehr. Seine Frau fürchtete sich vor dem Ende und verständigte die Haus-ärztin. Sie kam vorbei, als auch die Tochter zu Besuch war. Für die Untersuchung richtete er sich auf wie ein Roboter. Sein Gesicht mit den geschlossenen Augen war unendlich traurig. "Sein Zustand ist lebensgefährlich. Er befindet sich bereits im Koma. Wenn ihm überhaupt geholfen werden kann, dann im Krankenhaus." Die Ärztin sprach sehr laut. Er zeigte keine Reaktion.

  "Was wirst du tun?" fragte die Tochter seine Frau. "Ich weiß nicht. Ich bin völlig ratlos. Er will doch nicht ins Krankenhaus. Aber ob ich das schaffe, hier zu Hause?" Sie weinte. "Ich sagte Ihnen doch, er liegt im Koma. Er merkt es gar nicht, wenn Sie ihn einliefern lassen. Aber bitte, das haben Sie zu entscheiden." Die Ärztin stand direkt am Bett des Mannes. Er verzog keine Miene. Seine Frau und die Tochter empfanden Widerwillen gegen die Ärztin und verabschiedeten sie. Sie gab ihnen die Telefonnummer des Rettungswagens. "Für alle Fälle." Mutter und Tochter gingen in einen anderen Raum und überlegten. Die Angst vor der eigenen Hilflosigkeit siegte. Die Frau stellte sich ans Bett des Mannes. "Du, ich schaffe das nicht. Die Ärztin meint, du mußt dringend ins Krankenhaus. Ich rufe den Rettungswagen. Hörst du?"

  Er setzte sich auf in seinem Bett. Das war kein Koma! Sehr langsam ging er zur Toilette. Als er wiederkam, war sein Gesicht verschlossen. "Ich muß meine Medikamente nehmen." Die Frau gab sie ihm. Ihr Gesicht spiegelte ihr schlechtes Gewissen. "Sie nehmen doch keinen mehr an im Krankenhaus am Nachmittag", verkündete er, deckte sich zu und schlief wieder. Der Rettungswagen kam. Zwei Männer traten an sein Bett und schrien fast seinen Namen. Er antwortete nicht. Es war nicht schwierig, ihn auf die Trage zu legen. Draußen stürmte es. Die Tochter setzte ihm die Mütze auf, die ihm beim Umbetten vom Kopf gerutscht war. Er schnaufte ein wenig, es klang ärgerlich.

  In der Notaufnahme wurden sie von ihm getrennt. Es dauerte sehr lange, bis ein Arzt zu Frau und Tochter in den Warteraum kam. "Er ist völlig ausgetrocknet. Aber er liegt nicht im Koma. Er konnte mir völlig klar Auskunft geben über sich und seine Beschwerden. Wir werden ihn gründlich untersuchen. Wahrscheinlich ist seine Leber stark geschädigt." Die Frau atmete hörbar auf. Zu Hause hätte man ihm nicht helfen können. Hier wurde etwas unternommen. Er bekam ein Einzelzimmer auf einer Station. Frau und Tochter durften zu ihm. Er trug bereits ein weißes Krankenhaushemd, hinten zu öffnen, und saß auf der Bettkante, als sie eintraten. Das Bett war zu hoch gekurbelt. Seine Beine baumelten knapp über dem Boden, die Füße waren nackt.

 "Ich muß auf die Toilette", brummte der Mann. Er schien bei klarem Bewußtsein. "Wir haben keine Hausschuhe mitgenommen", entfuhr es der Tochter. Verärgert schüttelte er den Kopf. Die Tochter zog ihre Winterstiefel aus, streifte die Socken ab und zog sie dem Vater über die Füße. "Das könnt ihr doch nicht mit mir machen", sagte er, als er von der Toilette wiedergekommen war und im Bett lag. "Ihr könnt mich doch hier nicht allein lassen." Seine Stimme schwankte zwischen Zorn und Enttäuschung. "Du bist völlig ausgetrocknet, sagen die Ärzte. Hier kommst du an den Tropf und man wird dir helfen können." Beschwörend sprach die Frau auf ihn ein. "Ja, ja. Ich bin völlig ausgetrocknet. Das hast du mir schon zweimal gesagt." Er drehte den Kopf von ihr weg und starrte vor sich hin.

  "Wo sind meine Zähne?" Sie hatten sie zu Hause vergessen. Sie hatten alles vergessen, außer der Wollmütze, die er hier nicht tragen wollte. Es war ihnen peinlich. "Ich komme gleich morgen früh und bringe dir alles", versprach die Frau. "Und wie soll ich jetzt essen?" Er war sehr verärgert, was beiden Mut machte. Sie verabschiedeten sich von ihm. Er konnte sich nicht wehren. Am folgenden Tag wurde er untersucht. Der Verdacht mit der geschädigten Leber bestätigte sich. Ihm wurde Bauchwasser entzogen. Das sei nicht schmerzhaft gewesen, meinte er. Aber er fürchtete sich vor der Magenspiegelung, die morgen vorgenommen werden sollte. Seine Unterschrift war als Einverständnis nötig. Er lag ja nicht im Koma. "Wozu nur? Und wenn ich nicht unterschreibe?" Er tat es doch. Seine Familie blieb den ganzen Tag bei ihm. Der Tropf bewirkte, daß er weniger schlief. Er wollte wieder gesund werden, aber nach Hause. Er wußte, vorerst hatte er keine Chance.

  Am nächsten Krankenhaustag rasierte der Sohn ihn. Die Magenspiegelung hatte man um einen Tag verschoben. Als nachmittags die Tochter kam, war sie überrascht über sein gutes Aussehen. Er hatte seine Zähne im Mund, die Haut war glatt, die Augen schienen klar, er sprach wieder, zwar zögernd, aber er antwortete, wenn er gefragt wurde. Alle bekundeten ihren positiven Eindruck von ihm. Da wehrte er ab und zeigte ihnen seine wunde, stark gerötete Zunge. In der Geste steckte mehr als in seinen Worten. Plötzlich richtete er sich in seinem Bett auf. "Übrigens, heute bin ich gewogen worden: 59 kg!" Abwartend schaute er Frau und Kinder an. "Da hast du bestimmt schon wieder ein bißchen zugenommen", meinte die Frau. Er verstummte. Als die Kinder gehen wollten, erhob die Frau sich auch. Ängstlich bat er sie zu bleiben.

  "Kommst du mich morgen wieder rasieren, wie immer?" wollte er von seinem Sohn noch wissen, der wegen der beiden letzten Worte lächeln mußte und es ihm versprach. Beide Kinder umarmten ihnen und küßten ihn auf die Wange. Die Tochter lobte sein angenehm duftendes Rasierwasser. "Jetzt rieche ich nach dir", stellte sie fest, und er schien sich zu freuen. Auf dem Nachhauseweg machten die Geschwister einander Mut. "So lange wie heute war er seit Wochen nicht mehr wach." "Das ist der Tropf. Er wirkt. Und Mutter macht er auch keine Vorwürfe."

  Am späten Abend rief sie aus dem Krankenhaus an. "Kommt bitte schnell. Er liegt auf der Intensivstation. Die Ärzte sagen, es sieht gar nicht gut aus." Die Kinder nahmen ein Taxi. Endlose Gänge, eine Tür, dahinter die Mutter, in Tränen aufgelöst. "Er hat noch sein Abendbrot gegessen. Plötzlich hatte er so einen Druck auf der Brust und konnte nicht richtig durchatmen. Es kamen gleich drei Ärzte mit Sauerstoff zu ihm. Dann wurde er hierher verlegt. Es besteht nicht viel Hoffnung." Sein Zustand den Tag über hatte alle irregeführt. "Er hat jetzt keine Schmerzen und bekommt auch wieder genügend Luft. Das hat er selbst gesagt. Ich war auch schon drinnen bei ihm. Er hat mich erkannt. Ihr könnt auch zu ihm."

  Die Kinder zögerten. Die Tür zu dem Raum, in dem er lag, war geöffnet. Sie hörten die Stimmen von Ärzten und die Geräusche der lebenserhaltenden Maschinen bis auf den Flur, auf dem sie standen. An der Wand hing eine Röntgenaufnahme. "Die ist von seiner Lunge. Es soll viel Wasser drin sein", erklärte die Mutter. Bauchwasser, Lungenwasser, kaputte Leber, schwaches Herz. Er wollte sterben und er wußte, warum. Ein junger Arzt kam aus dem Raum, ging auf sie zu und  stellte sich vor. Auch er konnte die Ursache für die plötzliche Verschlechterung nicht benennen, vermutete einen Herzinfarkt. Der Kreislauf sei immer noch sehr schwach, so daß man die Möglichkeit einer künstlichen Beatmung in Betracht ziehen müsse. Er schaute die Frau und die Kinder aufmerksam an: "Ich habe dem Patienten von dieser Möglichkeit erzählt. Er schien mich zu verstehen und hat den Kopf geschüttelt. Er will das wohl nicht. Was meinen Sie? Ich muß Sie das auch fragen." "Was würden Sie tun, wenn es Ihr Vater wäre?" fragte die Tochter. Der Arzt antwortete ruhig: "Ich würde vermutlich so entscheiden wie er selbst - bei seiner Krankengeschichte und seinem Alter. Was käme auf ihn zu, wenn wir ihn stabilisieren würden? Viele Untersuchungen, bestimmt Schmerzen, ein wenig gewonnene Zeit. Wir haben ihm jetzt Sauerstoff und Morphium gegeben, um ihm Erleichterung zu verschaffen und ihn zu beruhigen. Er schläft. Sie können zu ihm gehen."

  Auf einer Bank im Flur lagen weiße Kittel für die Besucher der Intensivstation. Sie zogen sie über und betraten den Raum, in dem er lag. Das Oberteil seines Bettes war hochgestellt, so daß er nicht flach liegen mußte. Seine Augen waren geschlossen. Die Hände und Beine zuckten unruhig, das Gesicht jedoch wirkte entspannt. Er atmete langsam, aber nicht mühevoll. Monitore flackerten und piepten. Durch einige Drähte war er mit ihnen verbunden. In seiner Halsvene steckte eine Kanüle. "Das mußten wir tun, um seinen Blutdruck direkt beeinflussen zu können", erläuterte der junge Arzt, der mitgekommen war, als er das erschreckte Gesicht der Frau sah. Seine Nase und sein Mund waren frei. Keine Schläuche behinderten ihn. Er atmete selbst, so lange er konnte - und wollte. Vielleicht lag er jetzt im Koma, vielleicht nahm er sie dennoch wahr.  

  Die Frau und die Kinder blieben nicht lange an seinem Bett stehen. Das Krankenhaus lag nur wenige Minuten von der Wohnung entfernt. Sie verabredeten mit dem Arzt, er möge sie sofort verständigen, wenn sein Zustand sich verschlechtern oder er zu Bewußtsein kommen würde. Sie blieben nicht bei ihm, weil sie Angst hatten, ihn sterben zu sehen.

  Zu Hause angekommen, legte sich die Frau auf die Couch im Wohnzimmer, auf der er in den letzten Wochen immer gelegen hatte. Der Sohn und die Tochter setzten sich zu ihr. Sie tranken viel Tee, löschten das elektrische Licht und zündeten eine Kerze an. Dann warteten sie auf den Anruf. Die Kerze flackerte manchmal ein wenig. Es war sehr ruhig im Zimmer. Um 1 Uhr schrillte das Telefon, und die Tochter nahm den Hörer ab. "Ich muß Ihnen die traurige Mitteilung machen, daß Ihr Vater soeben gestorben ist. Sein Herz war zu schwach. Er ist nicht mehr zu Bewußtsein gekommen." Die Kinder umarmten die Mutter, wie sie es vor wenigen Stunden noch mit dem Vater getan hatten. Er hatte losgelassen.

März 1989
copyright by Renate Schallehn