Gutachten zur Diplomarbeit
Renate Schallehn: |
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Diplomarbeitsgutachten von Prof. Dr. S. Schubenz |
Die vorliegende Diplomarbeit gehört zu den besten, die ich im weiteren Umfeld von Alfred Adlers Wirken betreut habe. Diese Aussage hat deshalb einiges Gewicht, weil ich in den vergangenen 25 Jahren meiner Hochschullehrertätigkeit die meisten der an Alfred Adler interessierten Forschungsbemühungen im alten Psychologischen Institut betreut habe. Daß es sich dabei um eine real große Zahl handelte, liegt an dem Umstand der vorrangigen Orientierung der Mitglieder des Berliner Arbeitskreises für Tiefenpsychologie an der akademischen Psychologie. |
Der Wert der Arbeit liegt in ihrer historischen und institutionsanalytischen Ausrichtung. Wir Leser werden gründlich und umfassend informiert und können über lange Strecken durchaus vergessen, daß hier eine Vertreterin des Ansatzes der Individualpsychologie argumentiert. Das zeigt unter anderem, daß die Autorin nicht in der Versuchung steht, Psychologie mit Individualpsychologie gleichzusetzen. Das gelingt ihr deshalb so gut, weil sie bei ihren differenzierten Recherchen allen Verbindungen nachgegangen ist, die sich zwischen Adler und der akademischen Psychologie finden ließen. |
Der Autorin gelingt es darüber hinaus auch, uns die produktive Substanz des Werkes von Adler zu vermitteln, die - wie auch sie meint - in einer gesellschafts- und psychologiekritischen Sicht auf die menschlichen Entwicklungsprozesse und die möglichen Änderungen dieser Entwicklungen in Beratungs- und Therapiehandlungen bestehen. Ganz deutlich wird dabei, daß die erfolgreichen Versuche, die klinische Arbeit in der Folge von Adler als individualpsychologische zu sichern, paradoxerweise gerade von den wertvollsten Gedanken Adlers wegführen. So sieht es beinahe wie ein Pyrrhussieg aus, wenn die Autorin feststellt, daß die Praxis der auf Adler zurückgehenden Individualpsychologie als eine tiefenpsychologische Richtung der psychotherapeutischen Behandlung von der Kassenärztlichen Vereinigung anerkannt sei. |
Ich habe noch keine Arbeit aus dem Kreis der Individualpsychologie gelesen, die dem Gedanken so nahe war, Adlers Werk von der unbilligen Last zu befreien, sich unabhängig von den historischen Entwicklungen, die sich seit seinen Forschungen in der Psychologie ereignet haben, in die er, wie wir von der Autorin überzeugend vorgetragen bekommen haben, prägend eingegangen ist, sich gegenwärtig noch so behaupten zu müssen, als hätte es diese Geschichte nach ihm noch nicht gegeben. Damit will ich sagen, daß es gerade unter der von der Autorin hervorgehobenen neuesten Entwicklung zu einem Psychotherapeutengesetz eigentlich nicht mehr darum gehen kann, eine noch an einen Begründer gefesselte Psychotherapieschule in die nächste Zukunft zu geleiten. Auch das ist der Autorin zu danken, daß sie uns darauf hingewiesen hat, daß die Individualpsychologie in dem Prozeß ihrer Durchsetzung bei den Kassenärztlichen Vereinigungen ganz wesentliche Bestandstücke ihres Erkenntnisgefüges aufgeben mußte, weil sie nur in dieser reduzierten Fassung von Ärzten als ein medizinisch kompatibles Heilverfahren angewendet werden kann. |
So gesehen kann man die vorliegende Arbeit auch als ein Plädoyer für die weitere Bewahrung der Forschungen Alfred Adlers in der modernen akademischen Psychologie lesen, in der sie offensichtlich ohne den Schutz einer „Schule" lebendiger sein könnte als innerhalb einer solchen Schule, die sich immer in der Gefahr der Konservierung eines historisch überholten Rahmens sieht, an den dann die modernen Erweiterungen, die z.B. der Sache von Alfred Adler gut anständen, aber eben erst nach ihm entdeckt worden sind, nicht mit der historischen Selbstverständlichkeit als die systematischen Weiterentwicklungsaspekte angelagert werden können. |
Ich nenne die vorliegende Diplomarbeit von Frau Schallehn wegen ihrer wissenschaftlich offenen Gestaltung und den aufgezeigten Bezügen zu dem weiten Raum der Psychologie, in denen die Grenzen der Individualpsychologie durchlässig werden, |
sehr gut. |