Der Aufschub

November 1989: Literarischer Förderpreis der Axel Andersson Akademie (500 DM) für die Kurzgeschichte "Der Aufschub"  

Der Aufschub

   Ich staune darüber, dass ich immer noch lebe, Georg, aber ich spüre, dass dieser neue Tag, der sich durch die noch ge­schlossenen Jalousien einen Weg zu mir bahnen will, nur ein klei­ner Aufschub ist. Wozu dieses Zögern? Was gibt es hier noch für mich zu erledigen? Die Momente des Zorns und auch die der Trauer über das Unvermeidliche habe ich hinter mir gelassen. Mein erbärmlicher körperlicher Zustand, logisches Produkt eines fast achtzigjähri­gen Lebens, liefert mir den Beweis dafür, dass am Ende der Wille nichts gegen den Körper ausrichten kann. Und an Willenskraft hat es mir nie ge­fehlt, das weißt du am allerbesten.

   "Trink' wenigstens etwas, Mutter!" "Stell' sie dahin, die Tasse, Paula. Ich nehme sie mir später." "Der Arzt hat gesagt, du brauchst viel Flüssigkeit. Bitte, trink' doch." "Später, Kind, später."

   Was mir geblieben ist, Georg, ist mein klar funktionie­render Verstand, mit dem ich nun seit Wochen das schritt­weise Versagen aller körperlichen Funktionen registriere. Bei dir ging alles so viel schneller! Noch vor einer Woche konnte ich mich morgens, wenn auch mit unendli­cher Mühe und zittrigen Händen, selbst waschen. Inzwischen verlasse ich dieses Bett nicht mehr. Paula, unsere Tochter, reinigt mich, legt mir mehrmals am Tag Windeln an und flößt mir kleine Mengen von Schleimsuppen und Tee ein. Ich sehe, was sie tut, aber ich spüre nichts. Ich habe kein Gefühl in den Gliedern beim Aufrichten, keinen Geschmack auf der Zunge bei der Nahrungsaufnahme. Welchen Sinn hat das, Georg? Es ist, als pflege und füttere sie ein Abbild von mir, eine Gliederpuppe.

   Ich will dir etwas verraten, was seltsam ist, Georg. Ich bin zu einer phantasierenden Glie­derpuppe geworden! Während ich zur Bewegungslosigkeit verurteilt hier liege, tauchen Erin­nerungen auf, Bilder, die ich längst verloren wähnte. Sie kommen und gehen ohne mein Zutun und halten sich an keine Chronologie. Sie faszinieren mich, weil sie so klar sind, dass ich fast meine, es seien gegenwärtige Ereignisse.

   Die erwachsene Paula deckt mich zu, aber neben ihr steht die achtjährige Paula. Eben hat sie die Haustür zugeschmis­sen und sich mit weit aufgerissenen Augen vor mir aufge­baut. "Mama, warum kann ich meine Seele nicht fühlen?" Die Rattenschwänze mit den blauen Schleifen stehen kess vom Ge­sicht ab, aber die tiefe Falte über der Nase verrät mir, dass es ihr sehr ernst ist und ich antworten muss. Ich versu­che das typische Erwachsenenausweichmanö­ver. "Wie kommst du denn auf eine so schwierige Frage, Kind? Darüber haben sich schon viele Menschen den Kopf zerbrochen." "Birgits Opa ist gestorben, und sie haben ihn ver­brannt, Mama! Birgit sagt, das spürt er gar nicht. Aber er hat doch eine Seele, und wenn die jetzt mitverbrannt ist..." Paulas Augen haben sich mit Tränen gefüllt. Ich umarme beide Pau­las und bin froh, dass die kleine mir unbewusst bereits die Antwort verraten hat. "Die Seele kann ganz bestimmt nicht verbrennen, Paula, denn sie ist aus einem ganz anderen Stoff. Du sagst doch selbst, dass du sie nicht einmal fühlst, und trotzdem ist sie da, und zwar für im­mer." Obwohl die Erklärung holprig ist, lässt sich unsere Tochter trösten, Georg. Allerdings muss ich ihr noch schwören, dass es stimmt. Dabei fühle ich mich unwohl und hoffe, dass sie das nicht merkt. Nein, sie ist mit ihren Gedanken bereits woanders. Flink beugt sie sich über ihre Schultasche, zieht ein Heft heraus und zeigt es mir freudestrahlend: "Sieh mal, schon wieder eine Eins im Aufsatz!"

   Paula ist aus dem Zimmer gegangen. Ich sterbe hier zu Hause in meiner gewohnten Umge­bung, wie ich es mir ge­wünscht habe. Paula hat "Familienurlaub" genommen und ist zu mir gezogen. Ab und zu schauen auch ihre Kinder zu mir herein. Nathalie kennst du ja noch, Thomas wurde später ge­boren. Scheu und schrecklich brav stehen beide vor meinem Bett. Ich spreche bereits recht undeutlich, aber sie tun immer so, als hätten sie verstanden und nicken freundlich oder streicheln ängstlich über meine mageren Hände mit den stark hervortretenden Adern.

   Erinnerst du dich, wie ich dich im Krankenhaus besucht habe, Georg? Du bist operiert wor­den, aber deine Nieren wollten nicht mehr arbeiten. Nun liegst du unter einem Sau­erstoffzelt in der Intensivstation. Ich sitze neben deinem Bett, halte deine Hand in meiner und spüre, dass du selbst nicht mehr in deinem Körper wohnst. Mir ist so traurig zu­mute. Jemand bläst ganz sanft meine Haare im Nacken beisei­te und flüstert: "Hier bin ich doch." Ich schiebe es auf meine Übermüdung, aber ich weiß: nur du hast das immer so gemacht, früher, als wir jung waren.

   Obwohl doch allen klar sein müsste, wie es um mich steht, ist mein Tod ein Tabuthema, Georg. Wie gut, dich jetzt hier zu wissen. Du und ich sind gestern den ganzen Tag über ge­wandert. Wir sind jung, lieben einan­der und haben Landschaften gesehen, die wir nicht ver­gessen werden. In einer kleinen Pension am Waldrand übernachten wir. Ich sitze auf dem Bett, habe erschöpft meine Schuhe ausgezogen und betrachte kopfschüttelnd die vielen Bla­sen an meinen Füßen. Du kommst zu mir und streichelst mich. "Solange du dich spürst, lebst du." "Du mitleidloses Unge­heuer!" Lachend ziehst du mich an dich: "Pass auf, gleich spürst du noch mehr. Und das ist was viel Schöneres. Du solltest es dir merken."  

   Du hast Recht, Georg, wie so oft. Was tue ich noch hier? Um ehrlich zu sein, mit der selben Ungeduld, mit der ich früher das Leben einfangen wollte, bin ich jetzt dabei, auf den Tod zu warten. Und wieder einmal dauert mir alles zu lange. Allein die Tatsache, ein beweglicher Geist in einem beweglichen Körper zu sein, verleiht den Ereignissen, die durch aktives Tun ausgelöst werden, ihren Sinn. Ich aber bin unfähig, noch irgendetwas in Bewegung zu setzen, Ge­org. Wenn die Erinnerungen verblassen, wie jetzt, liege ich mit halbgeschlossenen Augen da und lausche meinem Atem. Meinem Atem? Selbst er scheint nicht mehr mir zu gehören, es atmet mich, ruckartig, unregelmäßig.

   Sofort kommt unsere Tochter wieder zur Tür herein, zieht die Jalousien hoch und öffnet das Fenster. Licht und Luft strömen in mein Zimmer. Paula hat rotgeränderte Augen. Sie ist trau­rig, meinetwegen. Ihre Gefühle verbirgt sie hinter einem Lächeln. "Schau, Mutter, so ein herrlicher Tag! Bald kannst du wieder auf der Terrasse sitzen. Du musst nur wol­len." Unsere Rollen scheinen vertauscht worden zu sein. Sie hat Angst, mich mit der Wahrheit zu erschre­cken. Wie kann ich sie erreichen, Georg, und ihr mitteilen, was in mir vorgeht? "Willst du das überhaupt?" Deine Frage ist berechtigt, Georg. Ich liebe sie wie immer, und dennoch ist sie weit weg, sie und das Leben. Meine Wahrheit ist nicht die ihre. Ich glaube nicht, dass ich ihr etwas Wichtiges übermitteln kann, oder doch?

   Wir schauen uns an, und ich murmele: "Guten Morgen, Paula. Das Licht tut gut. Danke." Paula, mein Mädchen mit den Rattenschwänzen und der Falte über den Augen. "Hab' nur et­was Geduld." Musst du nicht lachen, Georg, über so einen Satz aus meinem Mund? Paula schaut mich erstaunt an, weil sie ihn nicht deuten kann. Diesmal kann und will ich nicht aus­weichen, Paula. Bald werde ich dir verraten, wie das ist mit der Seele.

   Ist etwas übrig geblieben von meiner Angst vor dem Tod? Bin ich deshalb noch hier, um das zu klären? Ich habe dir erzählt, Georg, dass ich als kleines Mädchen oft Alpträume hatte. Ich phantasierte mich in waghalsige Situationen hin­ein, lebensgefährliche Abenteuer waren zu bestehen: auf ho­he Klippen steigen, deren Abgründe mich schaudern ließen, im Meer schwimmen, ohne das Land weit und breit, durch Urwälder mit wilden Tieren wandern, dem Feuer in einem großen Gebäude entkommen. Und dann wachte ich jedes Mal rechtzeitig auf, mit klopfendem Herzen, aber froh, mein Leben gerettet zu haben. Auch jetzt klopft mein Herz rasend schnell, Ge­org. Nur bin ich nicht am Aufwachen, sondern am Eintauchen in das Meer, das ich im Traum nicht wirklich durchschwommen habe. Ich ahne die Flammen und werde in sie hineingehen. Wilde Tiere lauern auf mich und lassen sich nicht vertrei­ben. Die Klippe ist noch viel höher als die in meinen Kin­derträumen und der Sprung von ihr herab diesmal un­vermeid­lich.

   Wo ist meine Angst geblieben, Georg? Mit jedem Atemzug wird es heller in meinem Zim­mer. Das Licht, das vom Fenster kommt, durchdringt alle Gestalten, Paula, dich, Georg, Landschaften, Formen, Farben und Töne. Es löst alles auf und befreit es. Es trägt mich und hebt das, was wichtig von mir ist, hoch und höher. Paula, schau mich an: Ich habe damals keinen Meineid geschworen! Endlich kann ich lä­cheln...

 

1989
copyright by Renate Schallehn