Arthurs Methode

 "Sind Sie wirklich ganz sicher, dass Sie die Frau nicht kennen?" fragte der Inspektor und deutete auf die Person, die leblos im Bett des Kriminalschriftstellers Arthur B. lag. "Völlig sicher", antwortete Arthur. "Wie erklären Sie sich dann ihre Anwesenheit hier?" insistierte der Inspektor und trat näher an die Frau heran. Er schlug die Bettdecke zurück, so dass ihr Körper vollends zu sehen war. Arthur schloss für einen Moment die Augen.

  Der Inspektor rückte den einzigen Sessel im Raum zurecht und bot Arthur mit der Zuvorkommenheit eines Gastgebers einen Platz in dessen eigenem Schlafzimmer an: "Bitte, setzen Sie sich doch". Arthur ließ sich augenblicklich in den Sessel fallen, wobei ihm ein leiser Seufzer entfuhr. "Sie hatten wohl noch nicht viel mit Toten zu tun?" erkundigte sich der Inspektor. "Zumindest nicht mit solchen, die mein Bett als letzte Ruhestätte gewählt haben", stieß Arthur grimmig hervor und versuchte vergeblich, seine zitternden Hände zu ignorieren.

  Lässig setzte sich der Inspektor auf die Bettkante neben die Tote und tätschelte ihr kurz das blutverklebte Haar. "Die Spurensicherung hat schon alles Notwendige erledigt", erläuterte er, als wolle er seine Geste legitimieren, und übergangslos fügte er hinzu: "Einen Schnaps?" Ohne auf die Antwort zu warten, zauberte er mit einer eleganten Bewegung eine kleine Taschenflasche aus seiner Jackettinnentasche und ergriff eines von zwei blaugepunkteten Gläsern, die auf dem Tisch neben dem Bett standen.

  Ungläubig fixierte Arthur die Gläser, die der Inspektor geschickt füllte. Wie waren sie in seine Wohnung gekommen? Nie hatte er blaugepunktete Gläser besessen. "Mit wem haben Sie sie denn das letzte Mal benutzt?" hörte er den Inspektor, der sein Glas mit einem Zug geleert und auf den Tisch zurückgestellt hatte, sanft fragen. "Überhaupt nicht. Es sind nicht meine", flüsterte Arthur und erkannte seine eigene Stimme nicht.

  Der Inspektor wandte sich der Toten zu, schenkte ihr einen liebevollen Blick und zog die Bettdecke wieder ein wenig höher, bis zu den weißen, nackten Schultern. "So", sagte er ruhig. Nichts hätte Arthur lieber getan, als ebenfalls den Schnaps zu trinken, aber er war unfähig dazu, da das Zittern inzwischen seinen Kiefer erreicht hatte und er spürte, wie seine Zähne aufeinanderschlugen. Er versuchte zu erraten, ob mit dem Kommentar die Zudeckaktion oder Arthurs Äußerung gemeint war.

  Schwungvoll erhob sich der Inspektor und steuerte mit den Worten: "Na, dann wollen wir mal" auf Arthurs Badezimmer zu. "Ich darf doch?" erkundigte er sich höflich. Arthur brachte ein schwaches Nicken zustande, woraufhin der Inspektor die Badezimmertür öffnete, sich dann wieder zu Arthur umdrehte und ihn aufmerksam betrachtete. Der starrte ungläubig in den kleinen Raum. Auf der Spiegelkonsole standen mehrere Schminkdöschen und Parfumflacons, ein hauchdünner Morgenmantel zierte den Fußboden. Der Inspektor betrat das Badezimmer und zog die Tür hinter sich zu.

  Arthur war mit der Toten allein. Ihr Gesicht mit den leicht geöffneten Lippen sah friedlich aus, so, als hätte sie sich nach dem Genuss einiger Schnäpse aus einem der blaugepunkteten Gläser nur kurz hingelegt. Ihre Haare allerdings hielten dieser Interpretation nicht stand. Sie waren blond und rot gescheckt, und das Rote war eindeutig Blut. Die zart gemusterte Bettdecke, so rief sich Arthur ins Gedächtnis zurück, verbarg das Entsetzlichste. Der Körper, von der Brust abwärts bis zu den Oberschenkeln, wirkte wie tätowiert. Schemenhaft konnte man männliche Figuren erkennen. Ihre Konturen waren durch Messerstiche erzeugt und an vielen Stellen in dunkelrote Höhlen verwandelt worden.

  Was in aller Welt hatte er, Arthur, mit der gespenstischen Situation, in der er sich befand, zu schaffen? Wer war die Tote? Wie war sie in seine Wohnung gelangt? Wie kamen ihre Utensilien in sein Badezimmer und die blaugepunkteten Gläser auf seinen Tisch? Verdächtigte der Inspektor ihn des Mordes? Arthur spürte, dass er lediglich auf die letzte Frage eine Antwort erhalten würde.

 "Der Fall ist eindeutig, was meinen Sie?" Das Rauschen der Wasserspülung untermalte die Bemerkung, mit der der Inspektor aus dem Badezimmer herauskam. Diesmal ließ er sich am Fußende des Bettes nieder, trocknete seine noch etwas feuchten Hände an der Decke, die die Tote umhüllte, sorgfältig ab und sah  Arthur  interessiert an. "Nicht für mich", stieß dieser hervor und blickte am Inspektor vorbei auf sein immer noch gefülltes Schnapsglas. "Aber haben Sie ihn gelöst?" "Nein, Sie", erwiderte der Inspektor ohne zu zögern und fügte hinzu: "Sie sind doch Kriminalschriftsteller."

  Arthur hielt den Atem an. Er mußte einen Weg finden, diesem Alptraum zu entfliehen. Während er sein Schnapsglas vom Tisch nahm und es an die Lippen führte, schloss er die Augen. Nichts denken, befahl er sich. Die Leere trat augenblicklich ein. Arthur öffnete die Augen wieder und schaute sich um: der Inspektor und die Tote waren verschwunden. Nur das blaugepunktete Glas in seiner Hand erinnerte an die Szenerie von eben. Es funktioniert fast perfekt, dachte Arthur und schloss erneut für einige Sekunden die Augen. Das Glas war nicht mehr in seiner Hand, er spürte es mit Erleichterung. Arthur ging zielstrebig zu seinem Schreibtisch, setzte sich, schaltete den Computer ein und begann mit der Niederschrift der Kriminalgeschichte, die er morgen im Lektorat abgeben mußte.

  Diese neue Imaginationsmethode für Kreatives Schreiben ist wirklich sehr anregend, dachte er zufrieden. Man sollte sie anderen Schriftstellern weiterempfehlen. Wenn der Verlag monatlich eine Geschichte verlangt, gehen einem doch leicht die Ideen aus. So aber schaffe ich mir einen direkten Zugang zu dem unerschöpflichen Reservoir meiner Phantasien. Ich muss mich nur immer rechtzeitig aus meiner Trance aufwecken.

  Nachdem Arthur einige Seiten geschrieben hatte, gähnte er. Die Lösung hebe ich mir für meinen Traum heute Nacht auf, sagte er entspannt zu sich selbst. Er entkleidete sich, ging zu seinem Bett hinüber und legte sich unter die zart gemusterte Decke. Während die Leere sanft in sein Gehirn drang, bemerkte er weder die roten Flecken auf seinem Laken noch den kühlen Frauenkörper, an den er sich schmiegte.



copyright by Renate Schallehn