Spiegelbilder

  Schon den ganzen Morgen über war Margret merkwürdig nervös. Beim Zubereiten des Frühstücks in der Küche ertappte sie sich dabei, daß ihr Blick ständig aus dem Fenster hinaus auf den niedrigen Holzzaun vor ihrem schmucken Einfamilienhaus fiel. Sie spürte ein dumpfes Gefühl in der Magengegend. Was hatte es mit dem Holzzaun nur auf sich? Er war braun gestrichen, die Farbe blätterte an einigen Stellen bereits ab, und die Gartentür stand halb offen, wie immer, wenn ihre Tochter Lena, bevor sie zur Schule ging, den Hund ausführte. Nichts Beunruhigendes war zu entdecken.

  Margret strich sich mit einer energischen Geste das Haar aus der Stirn und schloß kurz die Augen. Sie hatte die Nacht zuvor schlecht geschlafen. Lena war erst spät heimgekommen, aber das geschah häufig in letzter Zeit und ging sie auch nichts mehr an. Margret war stolz darauf, ein gutes Verhältnis zu ihrer Tochter zu haben, obwohl diese sich mit ihren sechzehn Jahren in einem recht problematischen Alter befand. Wie anders hatte es in ihrer eigenen Jugend ausgesehen! Wieder blickte Margret auf die massiven Holzverstrebungen des Zauns und kniff, über sich selbst leicht verärgert, die Lippen zusammen. Sie zwang sich dazu, wegzusehen.

  Der Kaffee war inzwischen fertig und verbreitete einen angenehmen Duft, der sich mit dem der getoasteten Brotscheiben vermengte. Gleich würde Lena mit ihrem etwas eckigen Gang hereinkommen, den Hund mit einem Stupser in den Vorraum schieben und gemeinsam mit ihr frühstücken. Margret knotete ihren Morgenmantel fester zu, griff Kanne und Toastbrote, verließ die Küche und setzte sich an den bereits gedeckten Tisch im Wohnzimmer.

  "Nicht weglaufen, Margret, auf die Dinge zugehen", schoß es ihr durch den Kopf. Vaters Stimme, dachte sie überrascht. Mit diesen Worten hatte er sie manchmal aufgemuntert, als sie noch ein kleines, etwas schüchternes Mädchen gewesen war. Wie lange das zurücklag! Margret war, für damalige Zeiten ungewöhnlich, mit knapp siebzehn Jahren nach einem Streit von ihren Eltern fortgegangen, da diese ihr den Umgang mit Rolf, der später ihr Mann werden sollte, verboten hatten. Danach ließ sie sie nie mehr an ihrem Leben teilhaben, auch nicht, nachdem Lena geboren und die kurze Ehe mit Rolf in die Brüche gegangen war. Vom Tod der Mutter erfuhr sie in Frankreich, wo sie sich und ihre Tochter mehr schlecht als recht mit Übersetzungsarbeiten durchbrachte. Als nach einigen Jahren auch der Vater starb, erbte sie das elterliche Haus und kam heim. Lena hatte ihre Großeltern nicht kennengelernt.

  Wo blieb sie überhaupt? Der Kaffee wurde langsam kalt. Margret tat gegen ihre Gewohnheit Zucker in ihre Tasse und trank sie mit hastigen Schlucken aus. Zwischen Lena und ihr bestand die Beziehung, die sie sich für sie und ihre Eltern vergeblich gewünscht hatte. Sie beruhte auf einer Basis voller Vertrauen. Margret trommelte zur Bestätigung ihrer Gedanken mit den Fingerspitzen auf den Tisch. Stets hatte sie die Selbständigkeit ihrer Tochter gefördert und sie ihren eigenen Weg gehen lassen. Wie sehr Lena mir ähnelt, überlegte sie, charakterlich und auch äußerlich: die gleichen, ein wenig schlaksigen Gliedmaßen, die störrischen Haare, die immer ins Gesicht fielen, der direkte, zuweilen etwas düstere Blick. Der Kaffe mußte aufgewärmt werden. Margret griff unruhig nach der Kanne und betrat wieder die Küche. Während sie die Heizplatte einschaltete, sah sie gegen ihren Willen auf den Holzzaun im Vorgarten und hielt sich plötzlich an der Tischkante fest.

 "Nicht weglaufen, Margret, auf die Dinge zugehen!" Sie traute ihren Augen nicht. Es war, als schaute sie in einen Spiegel. Spielte die Übermüdung ihr einen bösen Streich? Das hatte sie alles schon einmal erlebt! Da draußen, an der Gartentür hatte es sich abgespielt, vor über zwanzig Jahren, nach dem großen Streit. An jenem Holzzaun hatte sie, Margret gestanden, trotzig, entschlossen, einen kleinen Koffer in der Hand. Und dann war sie gegangen.

  Von einer fremden Kraft gezogen lief Margret aus der Küche durch den Vorraum, öffnete die Haustür, die in den Vorgarten führte und - schaute in die Augen von Lena, ihrer Tochter. Sie stand am Holzzaun, sehr aufrecht, den Hund an der straffgezogenen Leine neben sich, einen pinkfarbenen Rucksack auf ihren Schultern. Margret schloß die Augen und hörte Lena sagen: "Ich muß weg, Mutter. Ich will endlich mein eigenes Leben haben. Hier bei dir geht das nicht. Ich komme mir vor wie dein Spiegelbild." Sie nennt mich 'Mutter', nicht 'Margret', wie sonst, dachte sie, an der Hauswand lehnend. Als Margret ihre Augen nach einer kleinen Ewigkeit öffnete, sah der Holzzaun aus wie immer. Die Gartentür war geschlossen, nichts Beunruhigendes zu entdecken.  


November 1987
copyright by Renate Schallehn